Warum Bevormundung in der Pflege krank macht – und was wir endlich anders machen müssen
Ich sag’s, wie’s ist:
Wenn ich noch einmal höre „Oma darf das nicht“, dann kriege ich SO einen Hals.
Denn mal ehrlich:
Wie kommen Angehörige, die Pflege oder Ärzte eigentlich dazu, einem – sagen wir mal – 85-jährigen Menschen zu sagen, was er nicht darf? Oder was er darf?
🎯 Das Problem heißt nicht „Zucker“. Es heißt Bevormundung.
„Nein, Tante Mizzi, du darfst kein Schokokeksi essen!“
„Nein, Opa, du darfst nicht mehr aufstehen ohne zu fragen!“
„Du brauchst das nicht mehr, in deinem Alter bringt das nichts mehr.“
Solche Sätze höre ich seit 20 Jahren in der Pflege.
Sie kommen nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Unsicherheit. Aus Angst.
Aus einem völlig überzogenen Sicherheitsdenken. Und aus einer Haltung, die tief verinnerlicht ist:
Alt = unfähig. Alter = gefährlich. Alt = unfrei.
🧠 Fachlich betrachtet: Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung
Ja, auch wenn sie dement sind und keinen Erwachsenenvertreter haben.
Ja, auch wenn sie Pflege brauchen.
Ja, auch wenn ihr Lebensstil nicht deinem Ideal entspricht.
Selbstbestimmung ist ein Grundrecht – nicht eine Wellness-Option.
Und manchmal bedeutet das auch:
jemanden lassen.
jemandem etwas zutrauen.
jemandem die Würde lassen, auch wenn es nicht in dein Risikomanagement passt.
💬 „Aber das ist doch gefährlich!“ – Ja, und?
Dann ist es eben gefährlich.
Menschen haben das Recht, Risiken einzugehen.
Das Recht, Fehler zu machen.
Das Recht, etwas zu tun, was dir vielleicht nicht passt.
Oder, um es mit einer großartigen Sozialarbeiterin zu sagen:
„Jeder hat das Recht zu verwahrlosen.“
Dieser Satz hat mir damals imponiert –
es ging um Messies und wie man ihnen helfen SOLLTE. Und daß man sie niemals zwingen darf ihre Wohnung aufzuräumen.
Den Satz kann man beliebig variieren:
„Jeder hat das Recht, sich zu verschulden“ – bei Menschen, die ihr Geld nach ihrem Gutdünken ausgeben, auch über die Maßen.
„Jeder hat das Recht, Körperpflege abzulehnen!“ – Viele alte Menschen duschen nicht mehr oder halt nur einmal die Woche.
„Jeder hat das Recht, Medikamente oder ärztliche Hilfe abzulehnen!“ – Jeder Mensch hat nur sein eigenes Leben und darf darüber frei bestimmen.
und „jeder Diabetiker hat das Recht, einen Keks zu essen wenn ihm danach ist“ – es ist sein Diabetes und nicht Deiner!
Denn:
Die Wohnung ist unordentlich?
Der Kühlschrank halb leer?
Die alte Dame will nichts als Tee und Zwieback?
- Herr Meier will seine Medikamente nicht einnehmen?
- Oma Hilde lehnt den Rettungseinsatz ab obwohl notwendig?
Dann frag ich mich nicht zuerst „Was ist hier falsch?“
Sondern: „Ist das so okay für sie?“
Wenn ja, dann ist das ihre Wahl. Nicht mein Projekt.
👊 Bevormundung ist keine Hilfe – sie ist Gewalt in Watte
Sie kommt freundlich und sicher oft gut gemeint daher.
„Ich mein’s ja nur gut.“
„Das ist doch besser für dich.“
„Ich hab gelesen, das soll man nicht mehr.“
Und zack – hast du jemandem die letzte Entscheidungsfreiheit genommen.
Du meinst es gut. Aber du machst es falsch.
🫱 Was stattdessen hilft: Raten, nicht regieren
Natürlich kann es Situationen geben, in denen man eingreifen muss.
Wenn jemand z. B. Herzproblemen auf seine Medikamente verzichtet,
oder bei stark ödematösen Beinen lieber noch „ein bisschen wartet“,
oder aus Angst keine Rettung rufen will.
Aber auch dann gilt: Erklären statt befehlen.
Beraten statt bestimmen.
👉 Was hilft, ist nicht der erhobene Zeigefinger –
sondern eine ruhige, verständliche Erklärung:
Warum es wichtig ist, jetzt Insulin zu spritzen
Was passiert, wenn man die Tabletten absetzt
Warum ein Krankenhausaufenthalt vielleicht doch sinnvoll ist
Aber die Entscheidung bleibt trotzdem beim Menschen selbst.
Egal ob 25 oder 92.
Und ja – auch wenn wir es besser wissen, müssen wir lernen, loszulassen.
In meiner Zeit in der HKP war ich öfters in brenzligen Situationen, wo ich wusste, daß ich z.B. einen Rettungseinsatz bei einer Patientin brauche – aufgrund ihres Allgemeinzustandes. Und es kam immer wieder mal vor, daß Patienten die dringend benötigte Hilfe ablehnten.
Da ich aber die Verantwortung habe und immer zu erster Hilfe bzw zur Hilfe verpflichtet bin und das auch mit meinem Gewissen vereinbaren muss, habe ich das dann immer so gelöst, daß ich zb. Frau Huber erklärt habe, daß ich nicht einfach wegschauen darf aber ihren Willen respektiere. Daher werde ich die Rettung rufen und sie darf dann natürlich die Mitnahme ins Spital ablehnen.
Damit habe ich zwar meine „Pflicht“ erfüllt aber gleichzeitig die Selbstbestimmung und Würde meiner Patienten gewahrt.
Denn Autonomie heißt nicht immer: das Beste tun.
Aber immer: das Eigene tun dürfen.
🫶 Was wir stattdessen brauchen
Vertrauen in die Person – nicht nur in den Lehrplan
Fragen statt Vorschreiben
Zutrauen statt Kontrolle
Und: eine verdammt große Portion Demut.
🌿 Mein Fazit:
Ich bin für gute Pflege.
Für Sicherheit. Für Aufklärung. Für Unterstützung.
Aber ich bin nicht dafür, Menschen im Alter zu entmündigen.
Ich bin nicht dafür, sie wie kleine Kinder zu behandeln.
Ich bin nicht dafür, dass jemand mit 88 nicht mehr entscheiden darf, ob er heute Apfelstrudel will oder nicht.
Wenn ich mal alt bin –
und mir jemand das Keksi verbietet – zeig ich ihm den Stinkefinger.
Mit Würde. Und Schokostreusel.
💛 Du willst Pflege mit Herz – nicht Kontrolle?
Ich unterstütze Angehörige, Pflegende & Betroffene dabei, Selbstbestimmung zu wahren – ohne die Sicherheit zu verlieren.